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Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt kindgerecht im Unterricht aufgreifen

Zum Christopher Street Day werden bald wieder zahlreiche Menschen in größeren Städten wie Köln oder Berlin auf die Straßen gehen, um sich für die Akzeptanz und die Rechte der LGBTQIA+ Community einzusetzen. Dank Aktionen wie dem CSD gewinnt die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Gesellschaft seit einigen Jahren immer mehr Sichtbarkeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, ob ein moderner Aufklärungsunterricht an den Schulen Themen wie Homosexualität oder Transgeschlechtlichkeit berücksichtigen sollte. Unsere Autorin Susann Robock, die seit Jahren als Diplom-Sexualpädagogin mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, erklärt im Interview, warum diese Themen in der schulischen Bildung nicht ausgespart werden sollten und wie Lehrkräfte Themen rund um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt altersgerecht im Unterricht aufgreifen können.

Lernbiene: Liebe Frau Robock, in der von Ihnen verfassten Lernwerkstatt „Weiblich, männlich, nicht-binär? Alles voll okay!“ für die Klassen 4 bis 6 haben Sie zahlreiche Kopiervorlagen und Unterrichtsideen zu den Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt erstellt. Was war Ihre Motivation hinter diesem Buch?

Susann Robock: Als Diplom-Sexualpädagogin führe ich seit mehr als 25 Jahren sexualpädagogische Projekte an Schulen durch und stelle dabei immer wieder fest, dass in der gängigen Literatur kaum kindgerechte Unterrichtsmaterialien zu diesen Themen vorhanden sind. Seit langer Zeit ist es mein Wunsch, an einem Material für die Schule mitzuwirken, das geeignete Arbeitsblätter und Methoden beinhaltet. Denn herkömmliche Unterrichtsmaterialien zum Thema Sexualaufklärung gehen meist von heterosexuellen Personen aus, die sich in ihrem biologischen Geschlecht wohlfühlen. Das trifft zwar auf die meisten Menschen zu, allerdings bleiben zahlreiche Gruppen unberücksichtigt: homosexuelle, transgeschlechtliche, nicht-binäre Personen und einige mehr. Der fehlenden Sichtbarkeit sollte mit dieser neuen Lernwerkstatt entgegengewirkt werden. Außerdem war es mir wichtig, Lehrkräften, die zum Beispiel ein transgeschlechtliches Kind oder ein Kind mit zwei Müttern oder zwei Vätern in ihrer Klasse haben, etwas an die Hand zu geben, um diese Themen bei Bedarf im Unterricht aufzugreifen.

Lernbiene: Warum finden Sie es wichtig, dass auch schon junge Kinder für diese gesellschaftliche Realität sensibilisiert werden?

Susann Robock: Wenn junge Menschen bemerken, dass sie sich zu einem anderen Geschlecht als gesellschaftlich erwartet hingezogen fühlen, sie aber immer nur von heterosexuellen Liebesbeziehungen hören, kann dies starke Verunsicherung und Selbstzweifel auslösen. Daher soll das Material zeigen, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind und es okay ist, »anders« zu sein, ohne dabei zu werten. Bewusstsein, Verständnis und Toleranz für alle Menschen und Lebenskonzepte zu fördern, sollte in meinen Augen ein besonderes Anliegen der Schule sein. Denn wenn nachfolgende Generationen mit dem Selbstverständnis aufwachsen, dass es z. B. auch Familien mit zwei Müttern gibt oder dass es nicht komisch ist, wenn sich zwei Männer auf offener Straße küssen, kann Homophobie und Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen vorgebeugt werden.
Ein weiterer Grund ist, dass sich auch Kinder Fragen stellen wie: Wofür steht die Regenbogenfahne? Was ist eine Transfrau? Was ist homosexuell? Kinder haben ein Recht auf altersgerechte Antworten auf diese Fragen.

Lernbiene: Was müssen Lehrkräfte beachten, wenn sie Themen wie Homosexualität, Transgeschlechtlichkeit oder Geschlechterstereotypen im Rahmen des Aufklärungsunterrichts mit den Schüler*innen behandeln möchten?

Susann Robock: Eine einfühlsame und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in welcher es keine dummen Fragen gibt und nicht gewertet wird, ist die oberste Priorität. Daher rate ich in der Lernwerkstatt auch dazu, zu Beginn der Einheit eine Fragenbox (z. B. einen Schuhkarton mit Schlitz) im Klassenzimmer aufzustellen, in welche die Kinder immer wieder anonym persönliche Fragen zu den Themen einwerfen können. Diese Fragen sollten zum Schluss des Projekts in einem gemeinsamen Gespräch mit der Klasse besprochen werden.
Zu diesem Punkt möchte ich auch noch sagen: Natürlich handelt es sich um sensible Themen, bei denen etwas Vorsicht und Respekt sicherlich richtig und wichtig sind. Aber die Angst einer Lehrkraft, etwas „falsch“ zu machen, sollte nicht dazu führen, dass diese Themen nicht angesprochen werden. Denn rechtzeitige sexualpädagogische Aufklärung kann das Selbstbewusstsein von Kindern und Jugendlichen stärken, Seele und Körper entlasten und somit psychischen und körperlichen Erkrankungen entgegenwirken. In der Lernwerkstatt geben deshalb z. B. das Begriffslexikon und die konkrete Vorgehensweise Sicherheit, um ein kindgerechtes und niveauvolles Projekt durchführen zu können.

Lernbiene: Warum finden Sie es wichtig, die Eltern im Vorfeld zu informieren, dass diese Themen in der kommenden Zeit im Unterricht behandelt werden?

Susann Robock: Da es sich um sehr persönliche Themen handelt, könnten sich die Eltern übergangen fühlen, wenn sie erst im Nachhinein von den Inhalten erfahren. Im häuslichen Kontext mit dem Kind einige Themen im Vorfeld zu besprechen, kann sich positiv auf den Wissenstand des Kindes auswirken. Zudem regt es die gesamte Familie an, die eigene Einstellung zum Thema zu hinterfragen und sich selbst zu reflektieren. Ein Elternbrief oder unter Umständen ein Elternabend dienen dazu, dass mögliche Fragen oder Vorbehalte der Eltern geklärt werden und geben der Lehrkraft die Möglichkeit, die Inhalte und Ziele der Sequenz vorzustellen und evtl. exemplarische Materialien zu zeigen. Eine Vorlage für einen Elternbrief findet sich daher ebenfalls in der Lernwerkstatt.

Lernbiene: Liebe Frau Robock, vielen Dank für das Interview!

Bildquellen:

Regenbogenfahne © Longfin_Media_AdobeStock_506980402

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